Historische Spurensuche – und ein lebendiges Archiv

Mit dem partizipativen Theaterstück „Völkerwanderung“ hat das Theater Freiburg eine besondere, sensible und kluge Inszenierung geschaffen, die auch für die Arbeit von Museen aus vielen Gründen hilfreich und erkenntnisreich sein kann.

Zunächst das Setting: Littenweiler ist ein Stadtteil von Freiburg, gelegen im Dreisamtal. Wir erfahren, dass hier die Kelten und Römer schon durch das Tal gezogen sind, dass das Tal schon im Mittelalter von Arbeitsmigration geprägt war und im 19. Jahrhundert von Abwanderung nach Amerika. Heute spielt Migration, Zu- und Abwanderung für Littenweiler immer noch eine große Rolle.

Sodann das Format: Ein Wagen wird durch die Straßen gezogen, dazu spielt Musik, die Besucher folgen dem Wagen und werden selbst zu einem Wanderzug. Der Wagen ist das „Archiv für Geschichten vom Kommen, Gehen und Bleiben“ und den Zuschauern werden in drei „Archiveinheiten“ die Geschichten des Littenweiler Archivs präsentiert. Es erwarten die Besucher darin etwa die „Ordner für Aufbruchsstimmungen und Fluchtmotive“ oder auch für „Zielloses Umherirren“. In den Ordnern befinden sich Datenträger und auf jene darf die Besucherin zugehen – sie spielen sich automatisch ab.

Und zum Erlebnis: Die Datenträger sind Menschen aus Littenweiler, die erzählen von Flucht und vom Ankommen, von Aufbruch und enttäuschten Erwartungen, von Träumen, Alpträumen und Papierkram. Sie zeigen Fotos von sich und ihren Freunden, sie sprechen deutsch, arabisch, spanisch oder chinesisch oder andere Sprachen. Sie erzählen nicht ihre eigenen Geschichten. Wir wandern in drei Akten und mit herrlicher musikalischer Begleitung über Bahngleise bei Littenweiler und enden vor dem Flüchtlingswohnheim, dessen Bewohner/innen aktiv in die Arbeit am Stück involviert sind. Wir hören, wie es den Angekommenen geht, was sie vermissen und und wie sie beäugt werden. Eine melancholische Stimmung liegt über dem Stück – die Geschichten sind voller Wehmut und Schwere, voller Angst und Trauer. Migration eben? Am Ende haben wir von den 147 Geschichten aus dem Archiv vielleicht 12 gehört – ein subjektiver, zufälliger Einblick in eine endlose Fülle von Erzählmöglichkeiten.

Und was heißt das für Museen? Das „Archiv für Geschichten vom Kommen, Gehen und Bleiben“ ist ein fantastisches künstlerisches, partizipatives Format, das unmittelbar einleuchtet und auf mehreren Ebenen funktioniert, sich Migrationsgeschichte annimmt, systematisch Erzählungen der Gegenwart sammelt und dies auch weiterhin tun kann. Ein geradezu ideales Format für ein Museum. Die charmante Inszenierung im Stadtteil, die Einbindung der gegebenen Infrastruktur, die Beziehungen, die mit und unter den Bewohner/innen und Mitspielenden entsteht, zeigt, dass das prozessorientierte, partizipative Arbeiten und das Ernstnehmen der Bewohnerinnen und Bewohner ganz außergewöhnliche Ergebnisse und vor allem: Verständigungsprozesse schafft.

Und am Ende: Steht der Kulturbürgermeister mit den Zuschauern, Theaterleuten und Flüchtlingen im Regen unter einer Brücke, es gibt Selbstgebackenenes und Bier. Später singen die Jugendlichen Karaoke und es wird wild getanzt.

Und weiter? Das Archiv ist lebendig, wir dürfen seine Geschichten weiter tragen, was ich hiermit mit zwei Geschichten tun will (Bilder unten). Die Utopie ist, „dass die gesammelten Geschichten in Bewegung bleiben und weiterwandern – durch den Stadtteil, durch Freiburg, durch viele Menschen und Köpfe“.

Hier geht es zu Rezensionen zum Stück: Badische Zeitung, Nachtkritik; 

Informationen: Das Stück ist noch zu sehen am 8./9./10. Mai; (hingehen!), Infos hier: www.theater.freiburg.de

Das Stück ist eine Produktion von Element3 e.V., Kollektiv Turbo Pascal & Theater Freiburg; Alle Infos hier